Vorbemerkung: Südtirol gehörte seit 1363 zu Tirol bzw. zu Österreich. Das Schicksal der Arbeiterschaft in Österreich war somit auch das Schicksal der Arbeiterschaft in Südtirol, wenn auch unter anderen, örtlich begründeten Gegebenheiten. Die Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich, im besonderen in Wien, kann daher auch als Teil unserer Geschichte betrachtet werden und diese Geschichte sei im folgenden kurz zusammengefasst.

 

Das Auftreten des Frühkapitalismus innerhalb der Volkswirtschaften im hohen Mittelalter führte zur Kernauseinandersetzung zwischen Profit und Solidarität. Profit (Gewinn) stand im Gegensatz zur Solidarität. Das Zunftwesen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit geriet voll in den Sog der neuen Entwicklung. Die Meister wälzten die Lasten des harten Konkurrenzkampfes auf die Gesellen ab, dadurch verschärfte sich der Klassenkampf. Die Folge davon war, dass die Gesellen im 14. und 15. Jahrhundert die Zünfte verließen und eigene Gesellenverbindungen durchsetzten. Gleichzeitig wandelte sich der selbständige Handwerker zum Lohnhandwerker, der Kampf zwischen Selbständigen und Unselbständigen wurde härter.

Als die Maschine im Produktionsprozess auftauchte, wurde sie anfänglich als Fluch empfunden, als eine Erfindung, die menschliche Arbeitskraft ersetzte. Der Besitzer der Maschine konnte die Arbeitsbedingungen diktieren. Die Dampfmaschine, dieses erste und wohl wichtigste Instrument für die Umstellung der Produktionsprozesse, war in den Händen des Besitzers (Kapitalisten) ein Mittel, um die kleine, kapitalschwache Konkurrenz in die Knie zu zwingen und ihr die neuen Bedingungen aufzudrängen. Es entstand eine »industrielle Reservearmee«, die um Arbeit betteln musste und der harte Bedingungen gestellt wurden. Es erging das Verbot des »gewerkschaftlichen« Zusammenschlusses (Koalitionsverbot), die bis dahin bestandenen organisatorischen Verbindungen wurden zerstört, die Löhne gesenkt, die Arbeitszeiten verlängert. Bis zu 16 Stunden wurde in den Fabriken gearbeitet. Die Löhne waren derart niedrig, dass sich die Arbeiterfamilien nur notdürftig durchbringen konnten, wenn auch ihre Kinder in die Fabriken gingen und für Mindestlöhne hart schufteten. Für die Kinder gab es dadurch kaum mehr die Zeit für die (zweiklassige) Volksschule. Aus dem vormaligen Lohnhandwerker entstand der Proletarier und Analphabet: ausgebeutet in der Fabrik, rechtlos im Staat.

Der Arbeiterkampf in Österreich und in den deutschen Landen erreichte 1848 einen ersten Höhepunkt. Das besitzende Bürgertum war unter dem Absolutismus zwar politisch rechtlos, konnte sich jedoch wirtschaftlich entfalten. Doch damit nicht zufrieden, forderte das Bürgertum politische Demokratie, »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit«, in Anlehnung an die Französische Revolution von 1789. Mit diesen Parolen waren die Arbeiter einverstanden und sie schlugen sich anfänglich auf die Seite des Bürgertums. Zu Beginn der Revolution von 1848 in Österreich kämpften Bürger und Arbeiter Seite an Seite, doch bald erkannte die Arbeiterschaft, dass die echte Befreiung der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein konnte. Als sich das Bürgertum am 13. März 1848 in Wien erhob, erhoben sich die Proletarier in den Vororten. Sie stürmten die Fabriken, zerstörten die Maschinen und zündeten Gebäude an. Der Absolutismus konnte vorerst nicht dagegenhalten und die Revolution schien zu siegen. Als das erfolgreiche Bürgertum die Bitten nach bescheidenen Lohnerhöhungen und nach Verkürzung der Arbeitszeit ablehnte und sich mit einem Wahlrecht zufriedengab, das die Arbeiter jedoch ausschloss, stiegen die Arbeiter im Mai 1848 nochmals auf die Barrikaden und erkämpften sich das Wahlrecht für den Reichstag, das allerdings einmalig war und in der Folge wieder verlorenging. Die Arbeiterschaft war noch nicht stark genug und sie erkannte auch die Notwendigkeit von Arbeiterorganisationen nicht in ihrer vollen Tragweite. Friedrich Sander gründete 1848 den ersten Wiener allgemeinen Arbeiterverein, der als Keimzelle der Arbeiterbewegung und somit der Gewerkschaftsbewegung in Österreich gilt. Als im August 1848 die Löhne gekürzt wurden, organisierte Sander Protestdemonstrationen, die blutig niedergeschlagen wurden.

Nach 1849, in der angelaufenen Epoche des Neoabsolutismus, wurden Arbeitervereine und Gewerkschaften verboten, strenge Strafen und dauernde Kontrolle durch die Polizei erstickten jede Regung im Keime. Die Industrialisierung wurde vom Besitzbürgertum fortgesetzt, die Not der Fabriksarbeiter wurde indes immer größer. Es gab Verzweiflungsstreiks und Attentate. Die folgenden zwanzig Jahre waren gekennzeichnet vom erbitterten Kampf der Arbeiter um ihre Rechte. Da und dort wurden Unterstützungsvereine von Buchdruckern, kleine Konsumvereine und – seit 1852 – katholische Gesellenvereine bewilligt. In diesen schwelte das Feuer weiter, aber es war ein Feuer unter der harten Oberfläche der Politik und der besitzenden Klassen.

Ohne Zusammenschluss sind alle jene, die gleiche Ideen vertreten, ohnmächtig. Deshalb drängte die Arbeiterschaft immer weiter auf die Aufhebung dieses Verbotes, und am 7. April 1870 hob die Regierung das Koalitionsverbot (Verbot des Zusammenschlusses der Arbeiter) aus Angst vor einer gefährlichen revolutionären Entwicklung auf. Das neue Recht ließ ab jetzt Gewerkschaften zu. Sogleich entstanden in Österreich Gewerkschaftsvereine, die allerdings nur örtlich zugelassen waren. Verbände blieben weiterhin verboten. Die Staatsmacht versuchte weiterhin mit allen Mitteln die Gewerkschaften zu bekämpfen und ihren Einfluss niedrig zu halten. Im Juli 1870 gab es in Wien einen Hochverratsprozess gegen Arbeiterfunktionäre. Die Spitzenvertrauensmänner der organisierten Arbeiterschaft wurden zu sechs Jahren Kerker verurteilt, und nach diesem Prozess lösten die Behörden die meisten Arbeiterbildungsvereine auf, von denen die Mehrheit erst wenige Monate lang existierte (seit April 1870).

Gegen diese Auflösung veranstalteten die Arbeiter Streiks und Demonstrationen, und die Regierung musste zumindest teilweise nachgeben. Es konnten zwar neue Verbände entstehen, aber die Umstände wurden erschwert. Die siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren gekennzeichnet von Verfolgungen und Auflösungen der Gewerkschaften. Doch die Arbeiter gaben nie auf. Sie hatten erkannt, dass sie ohne Gewerkschaften machtlos und somit ausgeliefert waren. 1866 stieß der Bürgerliche Viktor Adler zur österreichischen Arbeiterbewegung. Er erkannte die historische Rolle der Arbeiterbewegung und ihrer Gewerkschaften. Er war überzeugt, dass die Gleichberechtigung in der Gesellschaft für die Arbeiter und die Angestellten, also für die Lohnabhängigen, nur erreicht werden konnte, wenn sich die kleinen, oft untereinander streitenden Arbeitervereine zu schlagkräftigen Organisationen zusammenschlossen, ein klares Programm beschlossen und sich taktische Vorgangsweisen im Arbeiterkampf zu eigen machten. Der Einfluss Adlers und seiner Ideen war enorm. Innerhalb der Gewerkschaften begann sich unter seinem Einfluss das Bewusstsein der potentiellen Kraft der Arbeiterschaft durchzusetzen.

Die Idee, den 1. Mai eines jeden Jahres zum Feiertag der Solidarität der Arbeiter zu erklären, kam aus Amerika. Diese Idee wurde in Europa von den Gewerkschafts- und Arbeiterorganisationen mit Begeisterung aufgenommen. Aber nicht nur das. Die übermäßig langen Arbeitszeiten – bis zu sechzehn Stunden am Tag – waren eine unerträgliche gesundheitliche und seelische Belastung für die Arbeiter. Der Arbeiter war mehr Knecht als Mensch und wurde rücksichtslos ausgebeutet. Die Arbeiterbewegung eröffnete mit der Forderung »Acht Stunden Arbeiten, acht Stunden Erholung und acht Stunden Schlaf« die Offensive. Die Offensive wurde auf internationaler Ebene von den Arbeitern vorangetragen und es wurde in der Tat erreicht, ab 1. Mai 1890 den Achtstundentag einzuführen. Dies war der erste große Beweis dafür, dass die Gewerkschafts- und Arbeiterorganisationen imstande waren, die Massen anzusprechen. Seither feiern die Arbeiter in der ganzen Welt am 1. Mai den Tag der Solidarität.

Die päpstliche Sozial-Enzyklika »rerum novarum« gab im Jahre 1891 einen entscheidenden Anstoß für die Weiterentwicklung der Arbeiterorganisationen. Sie kritisierte die kapitalistischen Zustände in der Welt und machte den Weg frei für die christlichen Gewerkschaften. In der Zeit zwischen 1894 und 1907 entstanden allein in Österreich rund dreißig christliche Fachvereine und Gewerkschaften. 1906 wurde eine christliche Reichsgewerkschaftskommission, also ein reichsweiter Verband gegründet. 1909 fand der erste Kongress der christlichen Gewerkschaften statt. Die Freien Gewerkschaften, die ebenfalls in großer Zahl entstanden, lehnten sich an die sozialdemokratische Partei an. Doch damit war der Kampf noch nicht ausgestanden. In den Jahren 1901 bis 1903 kam es zu einer Wirtschaftskrise als Folge davon entstand bittere Arbeitslosigkeit, und es gab zahlreiche Austritte aus den Gewerkschaften. Die Unternehmerverbände, welche die augenblickliche Schwäche der Gewerkschaften für sich nutzen wollten, erließen ein geheimes Rundschreiben an ihre Mitglieder, Gewerkschaftsführer durch ein geheimes Zeichen im Arbeitsbuch, das jeder unselbständig Erwerbstätige besitzen musste, zu kennzeichnen. Die Folge: In Krisenzeiten wurden »Gekennzeichnete« als erste gekündigt oder fanden keine Arbeit. Doch der Erfolg blieb aus, die Arbeiter ließen die Gewerkschaften nicht im Stich und 1905 erklärte der Oberste Gerichtshof diese »Schwarzen Listen«, diesen Terror der Unternehmer, für »unmoralisch«.

Die »internationale Verbrüderung« der Arbeiter war von Anfang an einer der Grundgedanken der Gewerkschaftsbewegung, im Gegensatz zum national ausgerichteten Bürgertum. Die Aufgabe der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung war (und ist) es, in einer weltweiten Gesellschaft, in der die Zahl der unselbständig Tätigen ständig zunimmt, eine Gesellschaft der Solidarität zu schaffen. Auch heute erweist sich die internationale Gewerkschaftsbewegung als Garant für die solidarische Zusammenarbeit und internationale Sicherheit. Nach gewerkschaftlichen Vereinbarungen einzelner westeuropäischer Länder wurde nach und nach ganz Europa organisiert. Zwischen den beiden Weltkriegen konnten nur wenige außereuropäische Länder erfasst werden, doch nach dem Zweiten Weltkrieg breitete sich die Gewerkschaftsbewegung über alle Kontinente unserer Erde aus. Nicht zu vergessen ist der Aufruf von Karl Marx im Jahre 1847: »Proletarier aller Länder, vereinigt euch.« Was dieser Aufruf und die davon abgeleitete kommunistische Doktrin bewirkte, haben wir in diesem Jahrhundert – und die betroffenen Völker am eigenen Leibe – anschaulich und dramatisch erlebt. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen, dass der Kommunismus auch eine Perversion der gewerkschaftlichen Idee war.

Um die Jahrhundertwende gab es in Tirol rund 2.500 organisierte Gewerkschaftsmitglieder. Der Zusammenschluss der Fachvereine Tirols und Vorarlbergs und ihre Umwandlung in Gewerkschaften bildete den ersten Schritt zur Gewerkschaftsorganisation im heutigen Sinne. Der Großteil der Gewerkschaftsmitglieder kam aus dem Raum Innsbruck. Bozen wurde ebenfalls zu einem Mittelpunkt der Bewegung und Meran stand nicht viel nach. Im großteils christlich orientierten Tirol/Südtirol bildeten die christlichen Vereinigungen die Grundlage der Entwicklung. Jedoch war in diesen Gebieten, wegen der vorherrschend landwirtschaftlich orientierten Tätigkeit der Bevölkerung und somit einer begrenzten Industrialisierung, eine große Ausbreitung der Gewerkschaften nicht gegeben.

Wie bei jedem Krieg, litten auch im Ersten Weltkrieg die Organisationen jeder Art unter den Ereignissen. Alles wurde der Kriegsführung untergeordnet; die Einberufung der wehrfähigen Männer schlug große Lücken auch in die Gewerkschaftsorganisationen und die Aufrechterhaltung der »institutionellen Tätigkeit« derselben wurde immer schwieriger.

Ein schwerer Schlag war – nach dem verlorenen Krieg – die Annexion Südtirols an Italien, weil dadurch die bis dahin bestandene enge Verbindung der Arbeiterschaft Nord- und Südtirols auf politischem Wege unterbrochen wurde. Es erfolgte zwangsläufig die Lostrennung der Südtiroler Gewerkschaften von denen Nord- und Osttirols. Wegen des kleinen Gebietes wurde eine eigenständige Organisation in Südtirol nach 1919 vorerst nicht für existenzfähig erachtet. Deshalb entschlossen sich die rund tausend Gewerkschaftsmitglieder Südtirols, in die sozialdemokratischen Gewerkschaften Italiens einzutreten. Es war ein schmerzhafter und entscheidender Schritt, verbunden allerdings mit der anfänglichen Hoffnung dass in Italien das Verständnis für die Ideen und Ideale der Südtiroler Arbeiterschaft ausreichend groß sein würde. Der Erste Weltkrieg brach am 28. Juli 1914 aus. Die Arbeiterschaft in den europäischen Ländern protestierte entschieden gegen den Krieg, doch ließ sie in dieser historischen Stunde die Geschlossenheit vermissen. Denn ein Teil – entweder aus Überzeugung oder aus Opportunismus – war der Kriegspolitik eher gewogen.

In Tirol wurde ein wesentlicher Teil der Gewerkschaftsmitglieder zu den Standschützenvereinigungen einberufen, viele gegen ihren Willen. Die Kriegsgegner unter den Arbeitern wollten nicht als »Kanonenfutter für die Kriegsziele der herrschenden kapitalistischen Klassen« missbraucht werden.

Das Kriegsrecht hatte einschneidende Auswirkungen auch auf die Gewerkschaften in Tirol/Südtirol. Die direkten Verbindungen zwischen den einzelnen Sektionen wurden erschwert, der Briefverkehr wurde streng zensuriert. Briefe zwischen Innsbruck und Bozen/Meran brauchten zwischen zwei und drei Wochen, manches Mal wurde der Postverkehr zur Gänze eingestellt.

Am 1. Mai 1915 demonstrierten die Arbeiter in Südtirol zum letzten Mal. Im Forsterbräu in Meran sprach der österreichische sozialdemokratische Abgeordnete Simon Abram aus Innsbruck; im Gewerkschaftshaus in Bozen redete der Eisenbahnbeamte Adolf Berger aus Franzensfeste. Unter der Militärherrschaft der Kriegsjahre war es den Südtiroler Gewerkschaften untersagt, an den Generalversammlungen der Gewerkschaftsvereine in Innsbruck teilzunehmen. Doch nicht nur das. Die Gegner der freien Gewerkschaften nutzten die Gelegenheit, durch Denunziation bei der Militärbehörde die Arbeitervertretungen in Schwierigkeiten zu bringen. Diese politisch und zumeist ideologisch motivierte »Rache« brachte den Südtiroler Gewerkschaften schwere Zeiten. Das Leben der Gewerkschaften wurde sozusagen in den Untergrund gedrängt und je schrecklicher der Krieg mit seinen Auswirkungen auch auf die Zivilbevölkerung wurde – Hunger, Arbeitslosigkeit, Elend –, um so stärker wuchs vor allem in der Arbeiterbewegung die Ablehnung. Aber man bereitete sich auch auf die Zeit nach dem Krieg vor. Der 1. Mai als Tag der Solidarität wurde nicht vergessen und bereits 1918, noch vor Ende des Krieges, fanden Maiversammlungen in Bozen und in Franzensfeste statt.

Sofort nach Ende des Krieges und der Rückkehr der überlebenden Gewerkschaftsmitglieder wurde der Wiederaufbau der gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiterschaft in Angriff genommen. Mitten in diese Arbeiten platzte die Entscheidung der Großmächte, Südtirol an Italien abzutreten. Der Gewerkschafter Adolf Berger beschrieb dieses äußerst schmerzhafte historische Ereignis mit den Worten: »Tiefste Trauer erfüllte uns, von unserem Heimatland abgetrennt, plötzlich einem fremdsprachigen Volk, einer fremden Gewalt unterworfen; wir erkannten bald, dass uns Schwerstes bevorstand …« Alle in Südtirol bestehenden Ortsgruppen der Gewerkschaften waren vor dem Kriege an die österreichischen Zentralorganisationen in Wien und an die Landesgruppen in Innsbruck angeschlossen. Nach der Schließung des Brenners hörte jeder konkrete Kontakt zu den alten Zentralen auf.

Das Gewerkschaftshaus in der vormaligen Adolf-Pichler-Gilmstraße (nach 1928 Dante-Straße) wurde ab Frühjahr 1920 wieder zum Mittelpunkt. Während des Krieges mußte es der Militärbehörde zur Verfügung gestellt werden. Nach dem Zusammenbruch besetzte das italienische Militär das Haus und richtete dort große Verwüstungen an, die erst im Frühjahr 1920 einigermaßen repariert werden konnten. Das »Gewerkschaftshaus« in der Adolf Pichler-Gilmstraße war seit September 1909 Eigentum des »Ortsverbandes der Fachgewerkschafts- und Arbeitsvereine in Bozen und Umgebung«. Es entstand aus einem Gebäude, das seit 1906 der »Bierbrauerei Blumau« gehörte und bei der die Gewerkschaft der Lebensmittelindustrie-Arbeiter stark vertreten war. Den Plan zum Umbau des Gebäudes entwarf der Architekt August Fingerle. Die finanziellen Mittel für den Umbau hatten sozialdemokratische Organisationen aus Innsbruck und ein Parteifreund aus Deutschland zur Verfügung gestellt. Im Gewerkschaftshaus waren die sozialdemokratische Partei, die Gewerkschaften, die Buch- und Kunstdruckerei »Volksrecht«, eine Bibliothek und ein Restaurant (»Gewerkschaftshaus«) untergebracht. Das Gewerkschaftshaus war ein echtes Zentrum der Arbeiterschaft und auch der sozialdemokratischen politischen Bewegung in Südtirol.

Die offiziellen Versprechungen Roms, den Südtirolern Autonomie und Identität zu lassen, erwiesen sich sehr bald als eine trügerische Hoffnung, denn im Zuge der wachsenden Fanatisierung des Staates entstand eine politische Bewegung – der Faschismus –, die in Südtirol ihre ersten blutigen »Sternstunden« erlebte. Hier paarten sich mit dem Faschismus auch die neu erwachten nationalistischen Gefühle der schlimmsten Art. Am 24. April 1921 überfielen faschistische Horden in Bozen den Messeumzug und ermordeten den Marlinger Lehrer Franz Innerhofer; 45 Personen wurden von den Faschisten, die Bomben in die Menge warfen, zum Teil schwer verletzt. Dieser Tag ist als »Blut-Sonntag« in die Geschichte Südtirols eingegangen.

Noch am Abend des 24. April 1921 wurde von der Gewerkschaftskommission ein Generalstreik in Bozen ausgerufen. Die Eisenbahner schlossen sich sofort an, und am folgenden Montag setzte der Generalstreik in vollem Umfange ein, auch der Postverkehr wurde lahmgelegt. Am Montagnachmittag fand auf dem Viehmarktplatz (heute Verdi-Platz) eine Kundgebung gegen die faschistischen Übergriffe statt, an der sich über 10.000 Menschen beteiligten. Auf dieser Kundgebung sprachen die sozialdemokratischen Arbeiterführer Franz Tappeiner, Carlo Biamino und Eduard Reut-Nicolussi vom »Deutschen Verband«. Die Gewerkschaft hatte Hunderte von Mitgliedern für diese Kundgebung mobilisiert. Am folgenden Dienstag versammelten sich die Arbeiter im Gewerkschaftshaus und beschlossen, nach der Beerdigung des Faschisten-Opfers Franz Innerhofer die Arbeit wiederaufzunehmen. In einer Resolution stellten die Versammelten unter anderem folgendes fest: Im Falle eines weiteren Überfalles durch die Faschisten »wird die gesamte Arbeiterschaft mit den schärfsten Mitteln gegen diese Verbrecher vorgehen«. Am Begräbnis Innerhofers nahmen rund zweitausend deutsche und italienische Arbeiter teil.

Die Faschisten hatten nicht vergessen, dass die Arbeiter bei den Kundgebungen gegen die faschistische Gewalt nach dem 24. April 1921 in vorderster Linie gestanden waren. Sie hatten die Absicht, neben der Zerschlagung der gewerkschaftlichen Organisationen im Staate und deren Unterordnung unter die faschistischen Regime-Gewerkschaften auch mit den Südtiroler Arbeitern abzurechnen.

Am 8. August erreichte Bozen die Nachricht dass die Faschisten einen Angriff auf das Gewerkschaftshaus planten. Am 16. August 1923 kamen Mitglieder der faschistischen Syndikate ins Gewerkschaftshaus, um sich über das Verhältnis der freien Gewerkschaften zur faschistischen Gewerkschaftsbewegung zu »erkundigen«. Weil sie nicht weiterkamen, wurden die Mitglieder der Gewerkschaftskommission zum faschistischen Unterpräfekten Bolis geladen, der von Schwarzhemden umgeben war. Bolis forderte die Auflösung der freien Gewerkschaften und die Übergabe des Gewerkschaftshauses an die Faschisten. Am selben Abend besetzten Faschisten das Gewerkschaftshaus. Am 18. August 1923 öffneten die Faschisten gewaltsam Schränke und Schreibtische und räumten alles aus, stahlen das vorhandene Geld und spielten sich als die neuen Herren auf. Faschisten schmuggelten, wie sich einwandfrei herausstellte, eine kleine Menge Sprengstoff ins Unterdach des Hauses, den sie dann im Zuge einer Untersuchung »fanden«, worauf gegen die Gewerkschafter Anklage wegen umstürzlerischer Absichten erhoben wurde. Reut-Nicolussi als Verteidiger konnte einwandfrei beweisen, dass die Gewerkschafter völlig unschuldig waren und der faschistische Untersuchungsrichter musste sich den Tatsachen, wenn auch widerwillig, beugen.

Die eigentlichen Täter blieben unbehelligt. Am 23. August erklärte der faschistische Unterpräfekt Bolis den Gewerkschaftsvertretern, die Besetzung ihres Hauses durch die Faschisten sei endgültig, sie würden das Haus nie wieder zurückerhalten. Die Gewerkschaften, erklärte er unumwunden, sollten sich auflösen und dem faschistischen Syndikat beitreten.

Sämtliche Versuche – auf politischer und gerichtlicher Ebene –, diesen Raub von Privateigentum rückgängig zu machen, scheiterten. Das Gewerkschaftshaus wurde den faschistischen Freizeitorganisationen zur Verfügung gestellt. Damit war die deutsche Gewerkschaftsorganisation in Südtirol am Tiefpunkt angelangt. Während der Faschismus nach zwanzig Jahren, nachdem er Italien in einen Scherbenhaufen verwandelt hatte, zusammenbrach, blieb die eine Aussage des faschistischen Unterpräfekten Bolis wahr: Die Gewerkschaften würden dieses (übrigens im Krieg schwer beschädigte) Haus nie mehr zurückerhalten. Trotz aller Bemühungen nach dem Kriege blieb den Gewerkschaften diese Wiedergutmachung versagt.

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